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In diesem Artikel geht es um die aktuelle Fragestellung, die mir immer wieder begegnet, nämlich der Reitzeit. Auf der Natural Kids Ranch verschicken wir in regelmäßigen Abständen Feedbackbögen, um unsere Angebote stetig verbessern und optimieren zu können. Uns begegnet in diesen Feedbackbögen ab und zu folgender Kommentar:
„Ich würde mir wünschen das mein Kind mehr auf dem Pferd sitzt“ – Heidi K.
oder
„bei 6 Kindern ist die Zeit auf dem Pferd für das einzelne Kind viel zu kurz – vor allen Dingen für den Preis.“ – Ina M.
Wenn Eltern sich entschließen, ihr Kind zum Reiten anzumelden, dann möchten sie, dass ihr Kind möglichst viel und lange auf dem Pferd sitzt. Anscheinend wird ein qualitativ hochwertiges Angebot stark an der Zeit gemessen, die das Kind auf dem Pony sitzt.
So entsteht bei unseren Angeboten oft der Eindruck, dass man viel Geld bezahlt, aber im Verhältnis wenig Leistung erhält. Ein Angebot also, bei dem das Kind quasi einem „Mangel“ ausgesetzt ist, nämlich der wenigen Reitzeit.
In vielen Köpfen verankert ist immer noch das Bild des Abteilungsreitens, bei dem jedes Kind auf einem einzelnen Pony sitzt.
Aus der Sicht vieler Eltern wäre der Idealzustand, wenn das Kind kommt, 60 Minuten auf „seinem“ Pony verbringt, die Putz- und Vor- bzw. Nachbereitungszeit außerhalb der Reitstunde erfolgt (und dabei trotz allem hervorragend angeleitet wird) und dafür ein nur geringer Preis zu zahlen ist.
Diese Form des Unterrichts wird einem Kind aufgrund seiner Entwicklung und Konzentrationsfähigkeit nicht gerecht.
Aus meiner Erfahrung heraus durch die Arbeit an einer Förderschule Schwerpunkt Lernen habe ich die Faktoren der Konzentrationsfähigkeit und auch die Auswirkungen von „schlechtem, weil konzentrationsüberforderndem Unterricht“ auf die Konzentrations- und Lernfähigkeit der Kinder umfangreich beobachten und erfahren dürfen.
Wie wäre aus unserer Sicht der Idealzustand?
- Ein Kind, das kommt, glücklich ist, Freude am Tun hat, in seiner Entwicklung und Sozialisation gefördert wird.
- Ein Pony, welches mitarbeitet und zufrieden ist.
- Ein Trainer, der alle Kinder gut im Blick hat und mit Begeisterung bei der Sache ist.
- Eltern, die verstehen, dass es nicht nur um die Quantität (wie oft, wie lange usw.) geht, sondern auch um die Qualität, und dass weniger oft mehr ist.
- Und, machen wir uns nichts vor, natürlich eine Geldeinnahmequelle, die unseren Mitarbeitern und Ponys ein „angenehmes“ Leben ermöglicht.
Doch zurück zum Thema Reitzeit vs. Konzentrationsfähigkeit:
Konzentration ist keine Eigenschaft, die immer und jederzeit in gleichem Maße vorhanden ist, sondern eine Fähigkeit, die immer von der individuellen Situation abhängt.
Von folgenden Bedingungen ist die Fähigkeit zur Konzentration (also zur Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache auszurichten) abhängig:
- von der Tätigkeit (Ist die Sache für mich interessant oder eher eine langweilige Pflichtaufgabe?)
- von meiner aktuellen Stimmung (Fühle ich mich heute wohl oder bin ich aufgekratzt, habe Sorgen und Ängste?)
- von meinem Können (Macht mir die Arbeit Spaß, kann ich das, oder ist es für mich unangenehm, habe ich hierbei Schwierigkeiten?)
- von meiner Umgebung (Was passiert gerade um mich herum? Ist das viel interessanter und spannender?)
Auch beim Spielen (z.B. in ihrem Kinderzimmer) sind Kinder nicht über mehrere Stunden hinweg voll bei der Sache. Hier fallen Schwankungen in der Konzentrationsfähigkeit jedoch nicht auf, weil sie quasi mit ins Spiel eingebunden werden. Die Kinder verändern ihr Spiel, wechseln sich gegenseitig in den Spielrollen ab, lassen ihren Gedanken, Ideen, Wünschen freien Lauf, beziehen neue Vorschläge ins Spiel mit ein uvm.
Allgemein geht man von folgender Durchschnittskonzentrationsfähigkeit aus:
Kinder im Alter von Dauer der Konzentration im Durchschnitt
5 bis 7 Jahren bis 15 Minuten
7 bis 10 Jahren bis 20 Minuten
10 bis 12 Jahren bis 25 Minuten
12 bis 16 Jahren etwa 30 Minuten
Die Konzentrationsfähigkeit des Kindes lässt somit eine zu lange Reitzeit nur schlecht zu, ohne negative Konsequenzen zu haben. Diese äußern sich in folgenden Punkten:
- Sicherheit (wenn das Kind sich nicht mehr konzentrieren kann, passieren mehr Unfälle)
- „Langeweile“ (wenn das Kind sich nicht mehr konzentrieren kann, entsteht „Langeweile“, bzw. die Suche nach etwas anderem, was stimuliert, was fälschlicherweise oft mit „Unterforderung“ gleichgesetzt wird)
- Überforderung (wenn das Kind sich nicht so lange konzentrieren kann, wie es die Übung erfordert, wird es scheitern und macht dadurch negative Erfahrungen, die sein Selbstbewusstsein schwächen)
Fazit: Wir als pädagogische Einrichtung mit dem Anspruch, Kinder in ihrer Entwicklung und Sozialisation zu fördern, müssen uns Gedanken machen, wie wir diese Faktoren möglichst ausschließen, um ein qualitativ hochwertiges Angebot zu liefern.
Eines wird jedoch bei den Zahlen, die man den aktuellen Forschungsergebnissen zum Thema Konzentrationsfähigkeit bei Kindern entnehmen kann, deutlich:
45 Minuten oder mehr am Stück auf einem Pony sind utopisch und zwar nicht nur für Kinder im Vorschulalter, sondern auch für Kinder im Primarbereich.
Denn wenn die Konzentrationsfähigkeit nachlässt, geht das zu Lasten der Sicherheit des Kindes. Unfälle in klassischen Reitschulen sind (im Vergleich zu unseren Statistiken!) keine Seltenheit. Ein großer Teil dieser Unfälle entsteht, weil „das Kind nicht aufgepasst hat“. Ich stelle mich hier sicherlich in kein gutes Licht, wenn ich die Herangehensweise klassischer Reitschulen in Frage stellen, aber mit etwas mehr Fachwissen in diesem Bereich könnten viele Unfälle vermieden werden.
Wenn nun das Kind aber nicht so lange auf dem Pferd sitzen kann, weil es ihm eine hohe Konzentrationsfähigkeit abverlangt, wie kann ein professionelles Unternehmen wie wir die übrige Zeit so gestalten, dass das Kind auch die Möglichkeit hat, zu träumen, sich zu entspannen, in seine eigene Welt abzudriften?
Wie wir diese Problematik angehen:
- Wir spielen Phantasiespiele
- Wir beziehen die umstehenden Kinder mit ein, so dass sie nicht ohne etwas zu tun herumstehen
- Wir spielen Spiele mit hohem Aufforderungscharakter (Spiele, die für das Kind ansprechend sind – dies ist ein ganz individueller Punkt. Denn was für das eine Kind toll ist, kann für das andere gar nicht interessant sein)
- Wir setzen Materialien ein, die alle Sinne ansprechen
- Wir passen die Ponyanzahl dem Alter, der Gruppengröße und der Konzentrationsfähigkeit der Kinder an.
- Wir bieten einen attraktiven Freispielbereich an, in dem die Kinder sich mit dem Thema „Pferd“ auf ihre eigene kindliche Art und Weise beschäftigen
- Wir reduzieren weitestgehend äußere Ablenkungen in Form von Zuschauern, Bewegungen rund um den Reitplatz usw.
- Wir schaffen feste Rituale, die Sicherheit bieten, und die dazu führen, dass die Konzentrationskraft gebündelt, möglichst auf dem Reitspielplatz, verläuft
- Wir passen die Spiele so an, dass nicht nur das „normal entwickelte Kind“ Erfolg hat, sondern, dass auch ein z.B. entwicklungsverzögertes Kind angesprochen wird und Erfolgserlebnisse hat uvm.
Wie ist deine Erfahrung zu diesem Thema? Wenn du über Unfälle beim Reiten nachdenkst, welche Faktoren spielen dabei oft eine Rolle? Was bedeutet dieser Artikel für dich in der Konsequenz? Wie beeinflusst dieser Artikel deine Sichtweise? Ich freue mich auf dein Feedback zu unserem Artikel und wenn es Fragen gibt, beantworte ich sie gerne. Ich freue mich, wenn dir dieser Artikel gefallen hat, und du ihn teilen würdest.
Vielen Dank, dass du mir deine Zeit gewidmet hast! Ich weiß das sehr zu schätzen.
Marina Lange
Super Artikel! Ist zwar in Teilen mit der großen „Pädagogenkeule“ geschrieben, aber wunderschön in die wichtigen Dinge, dieser so wertvollen Arbeit eingebettet. Es ist nicht „Ponyreiten“ sonder eine soziales miteinander, mit einfühlsamen Tieren. Aus meiner Sicht geht es auch eher nicht darum, dass sich Kinder von Ponys tragen lassen, sondern, dass Menschen in Kontakt zu Lebewesen kommen die ohne „Verbalsprache“ auskommen. Der Bereich der Pflege, scheint der für die Kinder wertvollere zu sein.
Bitte mehr von solch überzeugter und kompetenter Arbeit.
Markus
Hallo Markus,
dankeschön für dein Feedback! Uns begegnet es ganz häufig, dass die Kinder sich wünschen „ich möchte lieber den Stall ausmisten anstatt reiten“. Wir geben diesen Wünschen Raum, da wir denken, dass nur über ein ganzheitliches Verständnis eine Partnerschaft mit dem Pferd, und damit harmonisches Reiten möglich ist.
Liebe Grüße
Marina
Jaaaa genau!!!
Und deshalb heißt das bei uns auch Ponyclub und nicht Reitstunde! 😉
Und es wird den Eltern im Vorfeld schon beschrieben dass es NICHT ums reiten lernen geht sondern um das große Ganze, um soziales Lernen, und vor allem Spaß und Freude!
🙂
Hallo Sarah,
das ist ja lustig, bei uns haben wir auch einen Ponyclub 😉
Die Eltern klären wir im Vorfeld auch auf, jedoch begegnet es uns trotzdem noch häufig, dass Eltern wieder in die „klassische Reitschul-Erwartungshaltung“ fallen. Wie geht ihr damit um? Magst du mal etwas dazu schreiben?
Alles liebe
Marina
Hallo Marina,
Bei uns ist das eine etwas andere Ausgangslage, der Ponyclub ist in der Betreuung bzw. im pädagogischen Konzept beinhaltet, kostet nichts extra und wird den Eltern in einem Newsletter erklärt, anbei ist auch das Formular, dass das Kind teilnehmen darf.
Außerdem haben wir dieses Jahr wieder einen Elternabend mit viel Praxis, bei dem eine Station der Stall ist 🙂
Und am jährlichen Elternfest sind wir auch meistens mit den Pferden present und kommen mit einzelnen Eltern ins Gespräch…
Bleibt nur die öfter gestellte Frage „wann ist mein Kind denn mal wieder dran mit Ponyclub?“ 🙂
Hallöle.
Ich finde es super das es endlich jemand ausspricht! Ich selbst arbeite auch mit Pferden, habe aber leider nicht das Talent so einen tollen Artikel zu verfassen. Echt klasse! Werde ihn mit vergnügen teilen.
Glg Cindy
Vielen dank liebe Cindy für dein Kompliment.
Schreiben lernt man nur durchs Schreiben 😉 Vielleicht traust du dich ja auch mal ran…
Da du auch mit Pferden arbeitest, würde mich das interessieren, wie ihr mit Eltern umgeht, die diese klassische Reischulerwartungen haben. 🙂
Ich freue mich über Feedback!
Marina
Vielen Dank für den tollen Artikel !!
Als reitende Eltern von zwei reitenden Kleinkindern sehen wir das genau so ! Weniger ist mehr- und trotz eigenem Pony sitzen unsere Kinder nicht länger als 15 min darauf !
Das rund ums Pferd ist ihnen mindestens genau so wichtig. Wir haben die Pferde zuhause und die Kinder sind mit Misten und Füttern usw aufgewachsen und machen alles rund ums Pferd mit Begeisterung !
Auch ich werde Ihren Artikel sehr gerne teilen !!
Liebe Grüsse aus der Pfalz Beate
Ein toller, mutiger Artikel!
Unser Bild vom Lernen ist ja oftmals so geprägt, wie es in der Schule läuft: Aufgabenstellung – Aufgabenlösung – Fertig.
Aber so funktioniert Lernen ja eigentlich nicht – vor allem dann, wenn die Lernerfahrungen die Kinder in positiver Weise „für ihr Leben“ prägen sollen.
Das Gehirn merkt sich ja nicht nur, wie ich auf dem Pferd gesessen habe oder – wie in meinem Fall – welche Tasten ich auf dem Klavier anschlage, sondern es merkt sich VOR ALLEM das ganze Drumherum: fühle ich mich wohl dabei? Macht es Spaß? Wie ist der soziale Kontakt, die Kommunikation, fühle ich mich mit dem verbunden, was ich tue?
Wenn sich das alles gut anfühlt für den Lerner, dann „sucht“ das Gehirn immer nach neuen Wegen, diese Erfahrungen wieder zu machen. Wenn nicht, dann speichert es vielleicht ein Leben lang: „Mathe ist doof!“ und vermeidet von da ab jede Situation, die auch nur entfernt mit Mathe zu tun haben könnte. Schade eigentlich.
Der Fehler, den die Schulen meistens machen, ist ja genau der, dass dieser Realität, wie das Gehirn funktioniert, keine Rechnung getragen wird. DAS ist der falsche Weg! Ein richtiger Weg ist sicher immer einer, wenn Pädagogen darüber nachdenken, wie sie das Lernen für die Kinder nachhaltig gestalten und auch mal neue Wege gehen.
Ich finde, das klingt ganz toll, wie ihr das angeht!!!
Toller Artikel, ich als „Kinderreitlehrerin“ kann nur bestätigen, dass leider oft die Eltern den Kindern einen Anspruch auf reiten einreden und den Grund für vollen Preis und „nur“ Stall-Ausmisten nicht verstehen.