Dies ist der erste Teil der Serie „Mythen beim Reiten lernen, die sich beständig halten, obwohl sie längst überholt sind“.

In meinem heutigen Artikel geht es um das Thema Zügel und warum ich der Meinung bin, dass Zügel zum Reiten eigentlich völlig überflüssig sind.

Wenden wir uns zunächst mal der Thematik Zügel zu:

Wozu wird der Zügel eigentlich überhaupt benötigt?

Laut Wikipedia dient der Zügel in der englischen Reitweise (Dressur, Springen, Military, Vielseitigkeit usw.) zur Versammlung (also der Beeinflussung der Haltung und Positur des Pferdes innerhalb der verschiedenen Gangarten und Manövern) des Pferdes in Anlehnung. Anlehnung bedeutet, dass das Pferd stetigen Kontakt zur Reiterhand hat, und sich durch die sogenannten “Zügelhilfen” dirigieren lässt. Die Impulse, die von der Reiterhand ausgehen sind also quasi eine Art Sprache, die das Pferd im Laufe der Zeit verstehen lernt (und lernen muss). Bei Zügelhilfen sprechen wir aber mitnichten vom Ziehen an den Zügeln bis der Gaul endlich mal stehen bleibt (bei gleichzeitigem Stemmen in die Steigbügel, weil man sonst nicht genug Kraft hat), sondern von kleinsten Bewegungen einzelner Finger, die nur ein geübter Mensch wahrnehmen können sollte.

In der Westernreitweise ist das Ziel ebenfalls die Versammlung, allerdings soll das Pferd hier ohne stetige Anlehnung in diese finden. Ich möchte hier jetzt nicht die Diskussion entfachen, ob das jetzt sinnvoll ist oder nicht. Mir geht es nur darum, zu erklären, wozu der Zügel dient.

Der Zügel dient nicht zum: Festhalten, Anhalten, Lenken!

Schauen wir mal in die Vergangenheit zurück:

Auch der Ritter hatte damals Zügel an seinem Pferd. In vielen Filmen sieht man heutzutage wilde Jagden durch Wald und Wiesen, bei denen die Reiter mehr oder weniger an den Zügeln herumfuhrwerken, damit es möglichst dramatisch aussieht und der Zuschauer etwas geboten bekommt.

Aber mal ehrlich: Wie hat das damals der Ritter gemacht, als er nun in der Schlacht angekommen war? Wenn er in der rechten Hand sein Schwert trug und links sein Schild? Wie hat er angehalten und gelenkt? Was hat er getan, damit das Pferd nicht gleich reißaus nimmt, wenn es die gegnerische Front auf sich zu galoppieren sieht? Wie konnte der Ritter sich trotz Rüstung wendig auf seinem Pferd bewegen und war immer in der richtigen Position, um seinen Gegner zu besiegen?

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Auch der Cowboy, der das Rind an seinem Lasso halten musste, konnte in diesen Situationen nicht mit dem Zügel einwirken. Auch hier war eine feine Kommunikation zwischen Reiter und Pferd nötig, die nicht über die Zügel ausagiert wurde.

Genau genommen brauchte er den Zügel nicht. Nicht zum Reiten lernen, nicht zum Bremsen, nicht zum Lenken und erst recht nicht zum Festhalten.

Wie kann das sein?

Der Grund ist im Prinzip recht einfach: Sowohl der Cowboy als auch der Ritter hatten eine enge Bindung und eine ausgeprägte gut eingeübte nonverbale Kommunikation zu ihrem Pferd. Das Pferd wurde viele Jahre ausgebildet bevor es sich zum “Ritterpferd” eignete, wenn überhaupt. Der Ritter und sein Pferd waren teils wochenlang gemeinsam unterwegs. Sie kannten sich. Ihren Charakter, ihre Eigenschaften, ihre Vorlieben etc. Auch der Cowboy hatte beim Viehtrieb tagelang viel Zeit mit seinem Pferd.

Die Körpersprache des Menschen hatte und hat eine viel größere Wirkung auf das Pferd, als heutzutage in vielen Reitschulen angenommen.

Aber zurück zum Thema:

Wie wirkt der Zügel auf das Pferd?

Wir können hier einen Test machen. Nimm einen Kugelschreiber und leg diesen quer in deinen Mund – die Enden des Stiftes schauen rechts und links heraus. Nun bitte eine zweite Person, von hinten an beiden Enden ganz leicht Zug nach hinten auszuüben. Bei wieviel Zug beginnt es, für dich unangenehm zu werden? Nun stell dir vor, 30 Kg Kind hängen an den Enden des Stiftes und ziehen ruckartig nach hinten, weil es die Balance z.B. beim Antraben verliert. Der Zügel hängt erst durch, dann gibt es aufgrund der Fliehkraft einen starken Ruck.

Hast du einen Eindruck gewonnen, wie schmerzhaft diese Tortur für das Pferd ist?

Bei Pferden die auf leichten (!) Zug am Zügel nicht reagieren, kann man davon ausgehen, dass die sensiblen Nerven am Maul bereits abgestorben sind.

Würdest du unter diesen Umständen gern ein Kind auf dir tragen? Umso weniger Verständnis habe ich dafür, dass Kinder Blasen an den Fingern haben, weil das Pferd mit aller Kraft die Zügel aus der Hand zieht und die Kinder dies nicht mehr halten können. Verantwortungsvolle Pferdebesitzer und Reitschulbetreiber lassen so etwas nicht zu, weil sie wissen, wie wertvoll ein sensibles Maul ist.

Wenn nun also klar ist, dass man den Zügel weder zum Lenken, noch zum Anhalten, noch zum Festhalten benötigt, und wenn ebenso klar ist, dass ein Anfängerreitkind noch nicht in der Lage sein wird, sein Pferd in die Versammlung zu reiten (weil es ja mit der eigenen Balance noch viel zu beschäftigt ist), warum ihm dann einen Zügel in die Hand geben und das Maul des Pferdes malträtieren?

Warum nicht an der Kommunikation und Körpersprache arbeiten und dies dazu verwenden, Kontrolle über das Pferd auszuüben? Für das Pferd ist diese Sprache natürlich (es verwendet sie selbst unter Artgenossen) und es versteht sie sofort.

Ich weiß, dass meine Meinung nicht die Meinung der Allgemeinheit wiederspiegelt. Ich bin mir bewußt, dass es ein kritischer Artikel ist. Dennoch würde ich mich über deine Meinung dazu freuen. Kennst du überhaupt Reitschulen in deiner Umgebung, die ohne Zügel reiten? Wusstest du, dass der Zügel nicht zum Anhalten, Lenken, Festhalten etc. dient?

Vielen dank fürs Lesen!

Marina Lange